Ich sehe was, was du nicht siehst
Ein frisch gemähter Rasen, ein modriger Antiquariats-Mief oder doch süsse Osterglockenaromen – die blinde Radiojournalistin und Aromaberaterin Yvonn Scherrer weiss ganz genau, wie die Welt riecht und geht im Leben immer schön der Nase nach. Im Rahmen des zehnjährigen Jubiläums der Fachstelle Sehbehinderung Zentralschweiz nimmt sie uns Luzerner mit auf eine Duftreise.
Der sanfte Kaffeegeruch steigt in die Nase und vermengt sich mit dem kitzelnden Duft von Chanels Nummer Fünf. Die Hand fährt über den sonnengewärmten Kunstledersitz – eine biedere Atmosphäre drängt sich auf. Hier das Klimpern von teurem Porzellangeschirr, da ein klirrendes Babygeschrei – die einzige Konstante ist der dröhnenden Hall unverständlichen Wortschwalls. So nimmt Yvonn Scherrer das Café wahr, in welchem wir sie treffen.
Mit feurigrotem Haar und smaragdgrünen Augen sitzt sie gegenüber – lauscht und riecht, was vor sich geht. Yvonn Scherrer ist Radiojournalistin, Aromaberaterin und seit frühster Kindheit blind. Orientierung verschafft sie sich dank ihrem ausgeklügelten Riechorgan – zwischen bestialischem Gestank und vollendeten Duftharmonien sieht sie die Welt durch ihre Nase. Kein Duft ist vor ihr sicher, denn ihre Nase lügt nie. So riecht sie beispielsweise, wenn die Menschen gestresst, ängstlich oder auch fröhlich sind. "Während Angst eher scharf und nach Schweiss und Mundgeruch stinkt, erkenne ich Stress am miefigen Krankheitsgeruch", erzählt sie uns. Andererseits gäbe es auch jene Menschen, die wohlig nach Ausgeglichenheit und innerer Ruhe riechen – gelüftet und gewaschen wie nach frischem Heu, das golden in der Sonne trocknet, so Duftmensch Scherrer weiter.
Während die Düfte des Alltags an vielen von uns vorbeirasen, fängt Scherrer jede einzelne Note ein. "Das Beste am Riechen ist, dass man es ohne jegliche Hilfsmittel, zu jeder Zeit, an jedem Ort und das alles gratis machen kann – weil atmen tut man ja sowieso", erzählt sie. Vielmehr liege die Kunst in der eigenen Aufmerksamkeit und die könne man problemlos trainieren. So müsse man das Gehirn nötigen, damit dieses die Arbeit macht und uns sagt, was wir riechen. Und wer einmal bewusst zu riechen beginne, dem werde quasi eine neue Welt eröffnet, versichert die Duftspezialistin.
Ein Auge ausleihen
Obschon Yvonn Scherrer sich mit Geschick durchs Leben schlägt und ihre Situation als Geschenk sieht, kann das Leben mit einer Sehbehinderung auch mit Komplikationen versehen sein. "Die Welt ist nicht auf blinde Menschen ausgelegt. Blind zu sein bedeutet für mich vor allem eine logistische Behinderung; denn wie kann ich eine Schrift lesen, die ich nicht sehen kann? Wie kann ich die Strasse überqueren, ohne dass mich ein unachtsamer Verkehrsteilnehmer überfährt? Wie kann ich einen Weg gehen, den ich nicht kenne? Das sind alles alltägliche Themen, die ich organisieren muss. Zudem kann ich es mir nicht leisten, unkonzentriert zu sein, denn sonst lebe ich gefährlich."
Schwierig wird es vor allem dann, wenn jene, die eigentlich sehen könnten, nicht hinsehen. So kommt es öfters vor, dass man sie anrempelt, weil die Augen am Smartphone-Bildschirm kleben oder dass die Pfoten von Hund Safir von Koffern überrollt werden. Auch hat sie es an Bahnhöfen schon erlebt, dass man, trotz Hilfeaufforderung, blindlings an ihr vorbeiläuft. "In solchen Situationen wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit und dass die Leute auch wirklich hinschauen und uns als Menschen wahrnehmen, denn wir haben viel zu bieten. Leihen Sie uns doch ab und zu Ihr Auge aus!", äussert sich Yvonn Scherrer. "Wichtig ist es aber auch, dass sich jene mit einer Sehbehinderung selbstbewusst hin stellen und sich bemerkbar machen. Wenn ich fröhlich ankomme und sage 'Hallo Welt, hier bin ich – wo bist du?' dann 'gluschtet' es die anderen auch mehr als wenn ich griesgrämig und gar schmuddelig durch den Bahnhof trotte".
Auch David Coulin, Verantwortlicher Öffentlichkeitsarbeit der Fachstelle Sehbehinderung Zentralschweiz (fsz), sieht das Potenzial im beidseitigen Mitwirken: "Es ist wichtig, dass sich Sehbehinderte erkenntlich zeigen, wie beispielsweise mithilfe des weissen Stocks. Auch muss man von dem Bild der 'armen Blinden' wegkommen – das sind nämlich Menschen wie Sie und ich. Es sind selbstbewusste Persönlichkeiten, die sich nicht so einfach behindern lassen", so Coulin.
Im vergangenen Jahr wurden in der Zentralschweiz 591 sehbehinderte oder blinde Klientinnen und Klienten vom fsz betreut – Gesamtschweizerisch spricht man von ungefähr 325 000 sehbehinderten Personen. Sehbehindert ist, wer eine Sehschärfe von unter 0.3 aufweist – zum Lesen ist eine Sehschärfe von 0.4 und zum Autofahren eine Sehschärfe von 0.6 nötig. Die Beratungsdienstleistungen der fsz sind für die Klientinnen und Klienten kostenlos.
Laut Coulin leisten die Zentralschweizer einen grossen Support in Sachen Blindenhilfe. Vor allem in Gemeinden wie beispielswiese Horw, wo Institutionen – hier der Blinden-Fürsorge-Verein Innerschweiz – beheimatet sind, sei dies spürbar. So zeige sich eine höhere Sensibilisierung der Bevölkerung und somit die grössere Bereitschaft, in sehbehindertengerechte Bauvorhaben zu investieren.
Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums, welches das fsz in diesem Jahr feiert, wollte man für einmal hinaus in die verschiedenen Zentralschweizer Gemeinden und hin zu den Klienten, anstatt diese immer der Reise in die Stadt auszusetzen. Zudem wollte man zur Feier des Jahres einen speziellen Höhepunkt bieten, der nicht nur für sehbehinderte sondern auch sehende Menschen spannend sein würde – und wer würde sich da wohl besser eignen, als die doch mittlerweile bekannte Düftlerin Yvonne Scherrer.
Kleines amuse-nez
So kann man sich auf ein aromatisches Spektakel gefasst machen: während Yvonn Scherrer in einem ersten Teil aus ihrem Mundarterstling "Nasbüechli" vorliest, geht's im zweiten Teil etwas praktischer zu und her: "Sich selbst zu kennen und zu wissen, wie man riecht, ist immer am schwierigsten und gleichzeitig am spannendsten. Somit wird es darum gehen, den Eigengeruch wahrzunehmen; wie riecht meine Haut und wie meine Haare? Auch sollen Lieblingsdüfte entdeckt werden. Und vieles mehr", verrät Yvonn Scherrer vorerst.
Lust auf ein kleines Duftexperiment? Am 11. September können Sie Ihre eigene Nase im Hotel Waldstätterhof in Luzern unter Beweis stellen – die weiteren Daten der Riech-Tour finden Sie hier.
Joséphine Schöb